Afghanistan-Rede von Anne Rieger vom 14.11.2001
Kundgebung Schlossplatz Stuttgart, 14.11.2001, zwei Tage bevor der Deutsche Bundestag den Afghanistan-Einsatz beschloss
Nicht in meinem Namen! Nicht in meinem Namen – – spricht der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, wenn er der bombenden US-Regierung “uneingeschränkte Solidarität” im Afghanistan-Krieg verspricht. Nicht in meinem Namen – werden die Bundestagsabgeordneten handeln, die am Freitag mit ihrer Stimme 3900 deutsche Soldaten in den Krieg schicken – in den Krieg der sich gegen die afghanischen Menschen richtet – Unschuldige Zivilisten sind immer die ersten und im besonderen Maße Opfer der Kriege.
Wir lehnen den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan ab! “Der Krieg in Afghanistan ist noch nicht entschieden,” sagte der Minister im Aufrüstungsministerium, Rudolf Scharping, gestern Abend. Die Städte erobert zu haben, hiesse noch nicht, das Land erobert zu haben, so seine Kriegseinschätzung. Das heisst, der Krieg mit Flächenbombardements, Streubomben, Luftminen, Toten Zivilisten, Lynchjustiz und Plünderungen soll weiter gehen. Wohin soll er führen? In den Irak? Den Sudan? Als Einsatzgebiete werden im Bundestagsbeschluss für Freitag die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien, Nord-Ostafrika sowie die angrenzenden Seegebiete angegeben. Schaudert es die Abgeordneten nicht beim Wort Nordafrika? Habe sie keinen Funken geschichtlichen Bewußtseins?
Dieser Krieg ist und bleibt eine humanitäre Katastrophe. Seit 5 ½ Wochen werden in Afghanistan Menschen durch Flächenbombardements der Amerikaner getötet. Nun kommen die Toten durch die Bodentruppen der Nordallianz dazu. Wohnungen und Infrastruktur wird bombardiert und zerstört. Mehrfach wurden Warenlager des Roten Kreuzes gezielt zerstört, in denen Nahrungsmittel, Medikamente und, Decken lagerten.
Eine Schule, Kliniken, ein Altenheim, ein Wasserversorgungssystem, das von internationalen Hilfsorganisationen aufgebaut wurde, ein Wasserkraftwerk am Fuße eines Staudamms wurde so bombardiert, dass die Schleusen nicht mehr reguliert werden können, Hungersnot oder Überflutung droht zehntausenden Menschen Dieser Krieg ist nicht unser Krieg! Er geht über die Verfolgung einer Verbrecherbande weit hinaus, er macht ein ganzes Land zum Ziel seiner Zerstörung, er schafft neue politische Probleme, er ist politisch und humanitär falsch. An diesem Krieg sollte sich niemand beteiligen Auch nicht die Bundesrepublik Deutschland. Ich fordere allen Abgeordneten auf: Stimmen sie am Freitag mit Nein! Verhindern sie, das deutsche Soldaten das dritte Jahrtausend mit einem Angriffskrieg beginnen.
Die Ortsvorstandsmitglieder der IG Metall Region Stuttgart lehnen den Bombenkrieg, den Einsatz von Bodentruppen und den Einsatz deutscher Soldaten ab. In unserer Erklärung heisst es: “Wenn unsere zukünftige stärkere Rolle in der Welt mit Waffeneinsatz erkauft werden soll, können wir IG Metaller in der Region Stuttgart auf einen solchen Einfluss verzichten”. Von deutschem Boden darf kein Krieg ausgehen. Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen. “Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik” lautet die Regierungserklärung von Rot-Grün. Diese Friedenspolitik fordern wir ein! Wir unterstützen jeden Bundestagsabgeordneten, der gegen den Kriegseinsatz deutscher Soldaten stimmen wird. Von dieser Kundgebung aus wenden wir uns an alle Abgeordneten: Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen, durch die gleichzeitig gestellte Vertrauensfrage des Kanzlers. Nicht Sie sind für diese unsägliche Verknüpfung verantwortlich. Herr Schröder persönlich, hat diesen Zusammenhang hergestellt.
“Es ist ein machtpolitischer Trick erster Klasse”, hiess es gestern in den Nachrichten. Der Kanzler will damit die Abgeordnete zwingen, der mörderischen Kriegspolitik zuzustimmen. Wir verurteilen den Druck, der auf die Abgeordneten gemacht wird, bis hin zu der Aufforderung, sie sollten ihr Mandat niederzulegen, wenn sie anderer Meinung als der Kanzler sind. Dieser Druck widerspricht jeglichen demokratischen Spielregeln. Abgeordnete sind nach dem Grundgesetz nur ihrem Gewissen verantwortlich,, keiner irgendwie gearteten Bündnissolidarität, keinem Ansehen der Koalition keiner irgendwie gearteten Koalitionsstabilität keiner Schicksalsfrage Keiner Parteiräson Und keinem Bundeskanzler.
Es steht dem Parlament eines souveränen Staates wohl an, wenn es seiner Aufgabe nachkommt, und die Regierung kontrolliert. Keineswegs soll in einer Demokratie die Regierung das Parlament kontrollieren. Meine Damen und Herren Abgeordnete, bedenken Sie, wer sie gewählt hat, nicht der Bundeskanzler sondern wir und wir wollen keine deutschen Kriegseinsätze Wir brauchen keine Parteisoldaten sondern aufrechte Demokraten.
Die skrupellosen Selbstmordanschläge auf das World Trade Center und das Pentagon sind durch nichts zu rechtfertigen. Wir verurteilen sie. Unsere Anteilnahme gilt den tausenden Opfern und ihren Angehörigen. Aber eine Antwort darauf mit Krieg ist keine Lösung. Gewalt kann nicht durch Gewalt verhindert werden. Jeder gewalttätige Schlag provoziert weitere Gegenschläge. Die Leidtragenden sind unschuldige Menschen. Der Erfolg unserer Zivilisation, unserer Demokratie, unserer Rechtstaatlichkeit, unserer Humanität, der Aufklärung und der in der französichen Revolution erkämpften Bürgerrechte besteht darin, dass Gewalt nicht mit Rache und Vergeltung verfolgt wird. Ein Erfolg unserer Zivilisation ist vielmehr, dass unabhängige Gerichte statt selbsternannte Rächer Recht sprechen. Zurecht wurde in unseren Medien mit Abscheu über die Blutrache der Mafia berichtet. Wollen wir jetzt auf einmal das, was wir jahrzehntelang verurteilt haben gutheißen – es sogar selber tun? Wollen wir uns auf eine Stufe mit der Mafia stellen? Sowenig wie ein Ölfleck mit Öl, kann ein Blutfleck mit Blut abgewaschen werden, Rache und Vergeltung kann nicht die Richtschnur rotgrüner Außenpolitik sein.
Unabhängige Gericht stellen bei uns fest, wer Täter und Hintermänner sind, legen eine angemessene Strafe fest und wachen über deren Einhaltung. Die weltweit breite Übereinstimmung in der Bekämpfung des Terrorismus muss genutzt werden, um eine internationale Strafverfolgungsbehörde unter der Federführung der UNO zu errichten. Bisher haben sich die USA gegen eine solche Einrichtung gewehrt. Dieser Strafverfolgungsbehörde müssen gerichtsfeste Beweise über die Urheber und Hintermänner der Terrorattentate vorgelegt werden. Bis heute fehlen diese gerichtsfesten Beweise. Sie müssen geprüft und internationales Recht muss gesprochen werden. Das wäre sicherheitspolitisch vorwärtsweisende Aufgabe für die rotgrüne Bundesregierung. Wir fordern Bundeskanzler Schröder auf, sich für eine Internationale Strafverfolgungsbehörde – unter dem Dach der Uno einzusetzen.
Damit würde das außenpolitische Ansehen der deutschen Bundesregierung und das des Kanzlers gestärkt. Das würde zu mehr internationaler Sicherheit führen. Erinnern wir uns, die herbeigebombten humanitären Katastrophen gegen unschuldige Zivilisten werden unter dem Label durchgeführt, so die Terroristen zu finden, die das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington zerstört haben. Nehmen wir an, Osama Bin Laden sei der Urheber der menschenverachtenden, skrupellosen Terroranschläge.
Wie sollen ihn nun die Flächenbombardements vor Gericht bringen? Wir alle wissen: Mit Flächenbombardements werden keine Terroristen gefunden Tausenden Menschen werden sterben, vielleicht darunter auch Bin laden. Ist dann die USA vom Terror befreit? Wird es nicht viele neue junge Männe und junge Frauen geben, deren Hass durch die ungerechtfertigten Bombardierungen ihres Landes geschürt wird und die in ihrer Ohnmacht sich nun erst recht Gedanken machen, wie sie den USA schaden können und sich so zu Fanatikern entwickeln?
Was macht eigentlich den Kaukasischen Balkan – wie Brezinski ihn nennt – so wertvoll? Wieso werden – um die politische Vorherrschaft dort zu erringen – denn darum geht es offensichtlich- dort für Milliarden Dollar Bomben hineingepumpt? Warum wurde das ursprüngliche Kriegsziel, “das Fangen von Terroristen” geändert in “Beseitigung des Taliban-Regimes”?
Warum wird heute davon geprochen, dass es nicht nur um Afghanistan, sondern um andere Länder geht? Warum führt der Antrag der Bundesregierung die deutschen Soldaten nach Nordafrika und auf die arabische Halbinsel. Wozu werden in Afghanistan ABC-Abwehrwaffen und Seestreitkräfte gebraucht? Was bringt die Bundesregierung dazu, sich an diesem unwürdigen todbringnden Verfahren zu beteiligen? Warum unterstützt die Unternehmertagung 2001 die Kriegspolitik von Schröder.
Als Schröder vergangene Woche auf der Unternehmertagung 2001 in Düsseldorf den Einsatz von deutschen Militär im Afghanistankrieg begründete, “erhielt er immer wieder Beifall” heisst es bei wdr online. Zitat: “Der nordrhein-westfälische Arbeitgeberpräsident Jochen Kirchhoff begrüßte den Mut der Bundesregierung zum Kampf gegen den Terrorismus.” Nicht nur amerikanische und britische Soldaten, nein, nun sollen auch noch deutsche Soldaten in den Hochtechnologiekrieg gegen ein armes, geschundenes, wirtschaftlich völlig ausgehungertes Volk in den Krieg geschickt werden.
Es geht offensichtlich nicht um Bin Laden, auch nicht um Menschenrechte wie Musikhören, Bartrasur oder gleichberechtigte Frauenrechte. Offensichtlich geht es ums Öl in der Regien, um Ölpipelines und umGeostrategische Machtverhältnisse in Zentralasien, um die Machtverteilung innerhalb der NATo Und – um die Aufrüstung der Bundeswehr. Denn in den 1,5 Mrd.DM, die der Bundeswehr nun zusätzlich für den Afghanistan Einsatz zur Verfügung gestellt werden wird unter anderem ein Transportschiff angeschafft und die Fähigkeitslücken beim Kampfflugzeug Tornado geschlossen.
Da fragt man sich schon, wie man mit einem Transport Schiff in Afghanistan Terroristen fangen will. Milliardensummen dürfen nicht mehr für todbringende Waffen verschleudert werden. Die Gelder müssen sofort für den Wiederaufbau Afghanistans zur Verfügung gestellt werden. Für 2,5 Mrd. Dollar haben die USA bereits Waffen verschossen, 500 Mio wird die Minenräumung kosten und nun werden auch wir mit 1,5 Mrd. DM für einen Bundeswehreinsatz zur Kasse gebeten.
Dieses Geld für die Menschen Afghanistans zu verwenden, statt gegen sie, würde dem humanitären Auftrag eine Bundesdeutschen Nachkriegsregierung wesentlich besser anstehen. Denn langfristig wird Terrorismus nur zu bekämpfen sein, indem ihm der wirtschaftliche, soziale, politische und ideologische Nährboden entzogen wird. Das Talibanregime ist ein Ergebnis des CIA und der finanziellen Unterstützung der USA.
Nun wurden die Nordallianz vom Bombenhagel in die Städte geleitet. Freilich, wir haben gesehen, dass Menschen Musik hören konnten, Bärte abrasieren ließen. Aber was sagen uns diese Bilder, die wir nicht kontrollieren können? Wir haben gehört, dass beide Regime Blutbäder unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich gemeinsam mit der Europäischen Union für eine sofortige Einstellung der Bombardierung Afghanistans, ein sofortiges Ende des Bürgerkrieges einzusetzen, um politischen Lösungen für eine staatliche Neuordnung in Afghanistan eine Chance zu geben. Die Nordallianz muss gestoppt werden.
Beiden Seiten müssen sofort alle Waffenlieferungen entzogen werden. Das Ansehen der deutschen rotgrünen Regierung würde international beträchtlich steigen, wenn sie ihren real vorhandnen politischen und ökonomischen Einfluss darauf verwenden würde, als Friedensstifterin aufzutreten -Als Initiatorin für ein humanes, gleichberechtigtes Leben in der Region. Würden die Milliarden, die für den Krieg ausgegeben werden, verwendet um die Wirtschaft des Landes zu entwickeln, Kultur und Bildung wieder aufzubauen, würden alle Volksgruppen daran gleichberechtigt beteiligt werden, statt sie im geostrategischen Interesse des Westens gegeneinander zu hetzen, das Land wäre zu befrieden. Und eine Polizeitruppe wäre gewillt und in der Lage, eine Verbrecherbande von Terroristen aufzuspüren, wenn deren Schuld nachgewiesen ist.
Geschieht das alles nicht, steht die Befürchtung im Raum, dass dieser Krieg den Kern eines dritten Weltkrieges, beinhaltet, denn die Folgen in der Region und in der Welt sind weder kalkulierbar noch absehbar. Es droht eine unkontrollierbare Eskalation des Krieges, dersich wie ein Flächenbrand über den Erdball ausbreiten kann. Deswegen sind wir gegen die Teilnahme der Bundeswehr. Deswegen sind wir für einen Friedenseinsatz der deutschen Regierung. Eine Friedensinitiative des Bundeskanzlers ist das Gebot der Stunde. Wir stehen mit unseren Forderungen nicht allein. In allen großen Städten der bundesrepublik finden heute Abend Friedensdemonstrationen statt.
Zehntausende in vielen Ländern der Welt demonstrieren für die Wiederherstellung des Friedens in der Region. Italien und Schweden liegen nicht weit entfernt. Wir müssen unsere Bewegung international noch besser vernetzen. Was wir brauche, ist eine starke Widerstandsbewegung gegen den Krieg, gegen die schleichende Gewöhnung an militärische Einsätze der Bundeswehr, gegen die zusätzliche Verwendung von Steuergeldern für Krieg und Militär – statt für Gesundheitsversorgung, und zivile Investitionsprogramme um die zivile Wirtschaft wieder anzukurbeln. Wir wollen keine Militarisierung des Denken und Handelns Keine Militarisierung der Gesellschaft Lasst die Bundeswehr zu hause.
Anne Rieger, 2. Bevollmächtigte IG Metall, Waiblingen Landessprecherin VVN-Bund der Antifaschisten