Für ein Szenario des Friedens im Nahostkonflikt

Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Paech am 9. Dezember im Rahmen des 30. Friedensratschlags in Kassel hielt.

Wäre der Begriff der Zeitenwende nicht schon so abgegriffen und inhaltslos, könnte man den 7. Oktober 2023 als eine solche bezeichnen – zumindest für Israel, wenn man unseren Medien glauben soll. Ihre Berichte über Palästina waren nie durch eine besonders respektvolle Einschätzung der Palästinenser gekennzeichnet. Aber die Kluft zwischen der permanenten Zelebrierung des israelischen Schmerzes, der Wut, des Hasses, der Trauer und der Klagen in den Feuilletons einerseits und der Verachtung, Verhöhnung, Erniedrigung und Beleidigung der Täter andererseits war noch nie so vernichtend und endgültig. Das ist nur möglich, wenn man die lange Geschichte der Gewalt und Verbrechen zwischen beiden Völkern lediglich auf den 7. Oktober konzentriert, der wie ein schwarzes Loch die ganze Geschichte des Elends davor und danach verschlingt. Dann wird auch plötzlich der sonst so tabuisierte Vergleich mit dem Holocaust wieder erlaubt.

Bekannter Terrorvorwurf

Das Massaker vom 7. Oktober ist in der Tat in seinem Verlauf wie in seinem Ergebnis ebenso grauenvoll wie völkerrechtswidrig, ein furchtbares Kriegsverbrechen. Doch kam es nicht überraschend, es war voraussehbar. Alle Jahre der Besatzung und Blockade waren immer wieder von Angriffen der israelischen Armee mit Gewalt und zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung begleitet, ob 2021, 2018, 2012, 2008/2009. Wir können bis zum Jahr 1936 zurückgehen, dem Jahr des letzten großen Aufstandes der palästinensischen Bevölkerung gegen die fremden Siedler und ihre mit ihnen verbündeten Mandatsherren, der von diesen gemeinsam niedergeschlagen wurde. Ob 1948, 1967 oder 1973, das waren die großen Kriege um das Land und gegen die Besatzung. Seit der Gründung Israels hat es dort faktisch keinen Frieden gegeben, sondern einen fortdauernd unfriedlichen Zustand, im Englischen Low-intensity warfare genannt. Die immer wieder aufkeimenden Hoffnungen auf Frieden mit Namen Madrid, Oslo, Camp David, Taba oder Annapolis unterbrachen nur kurzzeitig den Kriegszustand, ohne ihn aufzuheben.

Die Grausamkeit und Gewalt dieser Kämpfe unterschied sich nicht von der Gewalt aller Befreiungskämpfe in den fünfziger bis siebziger Jahren in Afrika. Es war die typische Gewalt asymmetrischer Kriege, wie sie die Kämpfer der FLN in Algerien in ihrer Antwort auf die Frage, warum sie in die Papierkörbe der Restaurants Bomben legten, die unschuldige Gäste zerrissen, kurz beschrieben: »Hätten wir die Flugzeuge und Panzer der Franzosen, würden wir die benutzen, wir haben nur diese Bomben.« Alle Befreiungsbewegungen vom ANC in Südafrika über die SWAPO in Südwestafrika und die MPLA in Angola bis zur FLN waren in den Medien der alten Kolonialmächte Terroristen. Das war die PLO bis 1993 ebenso, danach war es die Fatah, und jetzt ist es die Hamas. Man hätte daraus lernen können, dass der Widerstand und die Gewalt nie durch das Militär, sondern immer nur durch den Rückzug der Okkupanten aus dem Land verschwunden sind.

Angekündigter Genozid

Die Geschichte nach dem 7. Oktober steht unter dem Schlachtruf, die Terrorgruppe Hamas zu vernichten. Die schier end- und unterschiedslose Gewalt, mit der die israelische Armee den Gazastreifen umpflügt, lässt allerdings den Verdacht aufkommen, dass die politische Führung in Jerusalem gelernt hat, dass der Sieg über eine militärische Organisation nicht ausreicht, um den Widerstand in der Zukunft zu brechen. Sie muss den Widerstand der ganzen Bevölkerung brechen. Israels Premierminister Netanjahu beruft sich gegenüber US- Präsident Joseph Biden auch auf die Flächenbombardierungen im Zweiten Weltkrieg und den Einsatz der Atombombe. Daher der offene Terror, die unbegrenzte Gewalt der Armee, flankiert durch den Stopp oder die äußerste Beschränkung der Zufuhr lebenswichtiger Güter.

Die Armeeführung hat vier Ziele ihrer Angriffe ausgegeben:
1. taktische Ziele, das heißt vorwiegend militärische,
2. Untergrundziele, also die Tunnel,
3. Power targets, das sind Hochhäuser, Wohnblöcke, öffentliche Gebäude, Universitäten,
4. Familienhäuser vermuteter Mitglieder der Hamas.

Den Schwerpunkt hat die Armee nach eigenen Angaben auf die Ziele drei und vier gelegt mit dem Ergebnis, dass 70 Prozent der bislang an die 20.000 Toten – die unter den Trümmern verschütteten nicht mitgezählt – Zivilisten sind. Die Todeszahl ist 15mal höher als beim bisher tödlichsten Gazakrieg 2014. Zwei Drittel der Toten sind Frauen und Kinder. Über 300 Familien haben mehr als zehn Angehörige verloren. 2014 kamen 93 Babys ums Leben, 2023 nach drei Wochen 286 Babys. Doch die nackten Zahlen der Toten, Verletzten und Vertriebenen vermögen die Hölle, in der sie mehr sterben als leben müssen, kaum andeuten.

Das Vorbild der Armee ist offensichtlich die Shock-and-awe-Strategie der US-Armee bei ihrem Überfall auf Bagdad im Jahr 2003. Nunmehr wird sie unterstützt durch ein System der künstlichen Intelligenz mit Namen »Habsora« (Gospel/Evangelium), welches ihr ermöglichte, in den ersten 35 Tagen insgesamt 15.000 Ziele in Gaza zu identifizieren und anzugreifen. Zum Vergleich: In den 53 Tagen von »Protective Edge« 2014 waren es circa 6.000. Jeder Krieg steigert die technologischen Fähigkeiten und die Zerstörungskraft, Parameter, bei denen Israel nicht ohne Grund mit an der Spitze operiert.

Dieser Krieg kann offensichtlich nur noch der Presse und der Bundesregierung als Verteidigungskrieg verkauft werden. In der internationalen Diskussion setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass es sich bei ihm um einen Völkermord handelt.

In den USA hatten sich schon Mitte Oktober 800 Juristen in einer gemeinsamen Erklärung unter der Aussage zusammengefunden: »Die anhaltenden und bevorstehenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen werden mit potentiell völkermörderischer Absicht durchgeführt.« Der Genozidforscher Raz Segal, einer der Unterzeichner, fügte hinzu: »In der Tat ist Israels genozidaler Angriff auf Gaza ausdrücklich, offen und schamlos. Israels Ziel ist es, die Palästinenser in Gaza zu zerstören. Und diejenigen von uns, die auf der ganzen Welt zuschauen, sind der Verantwortung, Israel daran zu hindern, nicht gewachsen.« Also sollten sich jene, die »zuschauen«, fragen, was sie getan haben, diesen 7. Oktober mit seinen katastrophalen Folgen zu verhindern.

Falsche Alternativen

Jene, »die zuschauen«, konnten nicht nur, sie wollten offensichtlich diesen voraussehbaren Krieg auch nicht verhindern. Der Auftrag der UNO, die beiden Völker in separate souveräne Staaten zu trennen, liegt immer noch offen auf dem Tisch. Er gilt zwar immer noch als offizieller Lösungsvorschlag aller Staaten zur Befriedung des Konfliktes, es gibt jedoch keine Regierung, die sich für ihn einsetzt. Die beiden einzigen realistischen Alternativen kann man unter die Begriffe »Parkplatz« oder »Apartheid« fassen.

Der »Parkplatz« ist die aktuelle Strategie der Netanjahu-Regierung, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen und die Bevölkerung zu vertreiben – wohin auch immer, am besten nach Ägypten. Die Bewohnbarkeit hatte die UNO dem Gazastreifen schon für 2020 abgesprochen, ohne allerdings das vorauszusehen, was jetzt geschieht. Die zerstörten Gebäude, die Infrastruktur und die Produktionsstätten sind zu reparieren. Aber für wen? Die Gesellschaft ist zerschlagen, eine zweite Nakba. Wer nicht umgekommen ist, hat alles verloren und trägt wohl nur noch den Schüssel seines Hauses mit sich. Zusätzlich zu den Millionen Flüchtlingen mit ihren Nachkommen fliehen weitere Hunderttausende in die Nachbarstaaten. Die USA werden diese Katastrophe nicht verhindern und die Bundesregierung auch nicht. Sie werden allenfalls mahnen, die Grundsätze der Humanität einzuhalten.

Als Alternative gilt vor allem die sogenannte Einstaatenlösung, bei der sich beide Völker arrangieren und ein friedliches Miteinander organisieren. Wie das im einzelnen erfolgen soll, ist ungewiss. Der vielzitierte Philosoph Omri Boehm spricht von einer Konföderation, in der auch die Flüchtlinge einen Platz finden sollen. Ob die Palästinenser die gleichen Rechte haben sollen wie Juden oder nur einen eingeschränkten Status, wie mitunter vorgeschlagen, steht zur Debatte. Was meines Erachtens nicht zur Debatte steht, ist die Zukunft eines solchen Einheitsstaates, wie er faktisch schon jetzt unter Bedingungen der Apartheid besteht. Die Mitglieder der UNO würden zwar weiter die Einhaltung der Menschen- und demokratischen Rechte anmahnen, aber niemand wird in seine Souveränität und internen Angelegenheiten eingreifen. Die Existenz Israels wäre gesichert, aber die Palästinenser hätten mit dem Verzicht auf einen eigenen Staat ihre Souveränität aufgegeben und müssten nun den Kampf um ihre politische, ökonomische und kulturelle Existenz allein gegen die jüdisch-zionistische Dominanz ausfechten – kein Szenario des Friedens.

Es bleibt die Trennung in zwei souveräne Staaten, die derzeit zwar diplomatisch gehandelt wird, aber keine effektive Unterstützung erhält, die eine Realisierung dieses alten Auftrags der UNO realistisch erscheinen lässt. Das wohl stärkste Argument gegen diese sogenannte Zweistaatenlösung lautet, dass der Landraub der Siedlerbewegung faktisch kein Territorium für einen palästinensischen Staat übriggelassen habe und diese Entwicklung auch nicht rückgängig gemacht werden könne. Wer würde es wagen, Juden von ihrem Land zu vertreiben?

Nach dem Krieg

Doch gibt es nach wie vor den Vorschlag der PLO, dass alle Siedler, die in dem neuen Staat bleiben wollen, bleiben können. Einzige Bedingung sei, die Souveränität des neuen Staates anzuerkennen, wie es für die Palästinenser in Israel seit langem selbstverständlich ist. Jene aber, die zu einer Anerkennung nicht bereit seien, müssten das Land verlassen und nach Israel zurückkehren. Der Vorschlag wurde seinerzeit von der Siedlerbewegung rundherum abgelehnt.

Dennoch sehe ich keine Alternative, als auf diesen Vorschlag zurückzukommen, wenn dieser Krieg zu Ende geht. Es genügt nicht, Gaza wiederaufzubauen, die Vertriebenen neu anzusiedeln. Die ganze palästinensische Gesellschaft muss von der Last der Besatzung und der permanenten Gewalt befreit werden. Der 7. Oktober 2023 sollte erwiesen haben, dass Frieden in dieser Region nur mit der Souveränität und Gleichberechtigung beider Völker zu erreichen ist.