Zusammenfassung eines Workshops beim Friedensratschlag 2024 in Kassel

von Stefanie Intveen und Ingrid Pfanzelt, 28.2.2025

Ein „Corona-Erzählcafé“ beim Friedensratschlag am 1.12.2024 im Philipp-Scheidemann-Haus in Kassel fand großen Anklang unter den Friedensbewegten, die sich dort zu ihrem jährlichen Kongress versammelt hatten. Etwa fünfzig Menschen beteiligten sich in einem überfüllten Seminarraum daran, persönliche Geschichten aus der Coronazeit zu erzählen und dem Gehörten Raum zu geben.

Ein schlanker älterer Mann schilderte: „Ich bin arm. Deshalb ging ich zur Tafel. Die Essensausgabe fand draußen in einem großen Innenhof statt. Mit anderthalb Meter Abstand und mit Masken, so wie es Vorschrift war. Aber dann sagte mir jemand: ‚Hier gilt 2G, tut mir leid, Sie müssen gehen.‘ Ich hatte nicht nur Hunger. Ich brauchte auch mal Leute zum Quatschen.“ Während er sprach, hätte man eine Stecknadel im Seminarraum fallen hören können.

Seit dreißig Jahren treffen sich in Kassel im Dezember einige Hundert Friedensbewegte zum „friedenspolitischen Ratschlag“ und diskutieren Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik. Welchen Sinn macht es, dass ein Friedenskongress Zeit für Corona-Fragen reserviert? Immerhin ist die Coronakrise seit April 2023 beendet. Wir drei Workshop-Leiterinnen – Marion Küpker (Hamburg)i, Dr. Ingrid Pfanzelt (München) und Stefanie Intveen (Köln) – haben die Erfahrung gemacht, dass die alten Corona-Konflikte bis heute die Friedenskräfte belasten. Wir sind seit vielen Jahren in Initiativen und Organisationen der Friedensbewegung aktiv. Die Krise war unseres Erachtens zu tief, um ihre Folgen ignorieren zu können. Gerade jetzt, angesichts der deutschen Aufrüstung und Verwicklung in Kriege und internationale Konflikte, fehlt die laute Stimme einer breiten Friedensbewegung. Wir sind überzeugt, dass direkte, klärende Gespräche über die Corona-Fragen helfen werden, Missverständnisse auszuräumen, Verständnis füreinander zu schaffen und neues Vertrauen zu gewinnen. Dies wird den einzelnen Menschen und der Bewegung insgesamt wieder mehr Kraft geben.

Den Blick auf das persönlich Erlebte richten

Das Kongressprogramm gab uns anderthalb Stunden für den Workshop. Wir entschieden uns für ein flexibles Einstiegsformat, mit dem wir mit einer unbestimmten Anzahl an Teilnehmenden zurechtkommen würden: ein „Erzählcafé“. Wir stellten uns darauf ein, dass Menschen kommen würden, die von der Krise persönlich betroffen waren und gegensätzliche Auffassungen zu einzelnen Aspekten der Krise hatten. Strittige Sachfragen würden wir nicht klären können. Daher richteten wir den Blick auf das persönlich Erlebte.

Wir stellten die Stühle in konzentrischen Kreisen, damit alle guten Blickkontakt zueinander hatten. Die gegenseitige Zuwendung durch das gemeinsame Anhören der Geschichten bekam damit einen räumlichen Ausdruck. Als alle Plätze besetzt waren und in den Ecken sogar einige Leute standen, baten wir die Teilnehmer*innen, ihre persönlichen Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle zu schildern.

Wir hatten uns auf Vertraulichkeit im Sinne der „Chatham House Rules“ geeinigt, das heißt, dass mit Außenstehenden nur über die Inhalte des Workshops, nicht über die Teilnehmer*innen gesprochen werden sollte. Wir hörten etwa ein Dutzend Geschichten.

„Heute erzähle ich das zum ersten Mal“

Ein pensionierter Lehrer erinnerte sich, er sei mit seinen politischen Freunden bei einer Gegendemo gegen die Kritiker*innen der Coronamaßnahmen in seiner Stadt gewesen. Nach Presseberichten hatten die Freunde Rechtsradikale erwartet, denen man sich entgegenstellen müsse. Als der Mann die Protestierenden an sich vorüberziehen sah, war er sehr irritiert: „Es waren ganz normale Leute, jung und alt, mit Kinderwagen, Fahrrädern, Rollstühlen. Sie waren friedlich und sehr freundlich. Das waren keine ‚Rechten‘. Ich stand mit meinen linken Weggefährten am Rand und sollte sie als ‚Nazis‘ beschimpfen. Ich traute mich nicht, offen zu kritisieren, was da passierte. Ich zog mich zurück. Dafür schäme ich mich bis heute. Meine Freunde, mit denen ich mein ganzes Leben lang friedenspolitisch gearbeitet hatte, wurden mir fremd. Seitdem habe ich keine politische Heimat mehr. Ich fühle mich nicht mehr geborgen in meinem Umfeld.“ Ihm kamen die Tränen, als er schloss: „Heute erzähle ich das zum ersten Mal.“

Eine über sechzig Jahre alte Frau berichtete davon, wie sie sich mit ihren drei gleichaltrigen Freundinnen an einem kalten regnerischen Abend zwei Stunden hinter einer Mauer vor der Polizei versteckt hatte. Die Freundinnen hatten an dem wöchentlichen maßnahmenkritischen „Spaziergang“ in ihrem Dorf teilgenommen. Die etwa 150 Teilnehmer*innen sahen sich Polizei in Sturmausrüstung gegenüber, die mit acht Mannschaftswagen angerückt waren und die Demo auflösten. Die Polizist*innen versuchten, die Demonstrant*innen, die sich schnell zerstreut hatten, zur Feststellung der Personalien einzufangen.

Der frühere Leiter einer Pflegeeinrichtung schilderte, wie schwierig die Arbeit in der Coronazeit gewesen sei. Anfangs seien viele ältere Menschen an der Coronaviruserkrankung gestorben. Die Arbeitsbedingungen seien hart gewesen, auch wegen der häufigen Änderung der Vorschriften. Sehr belastend sei das Besuchsverbot gewesen, das er hätte durchsetzen müssen.

Eine Klinikärztin berichtete mit Tränen in den Augen, man könne die Coronaviruserkrankung seit langem schon gut therapieren, wenn man frühzeitig medizinisch eingreife. „Aber man lässt uns nicht“, rief sie aus. Offensichtlich war hier eine medizinische und vielleicht sogar juristische Aufklärung des Sachverhalts notwendig. Dies konnten wir nicht leisten.

„Heuer fällt Weihnachten aus, das Christkind ist nicht geimpft“

Es gab auch weniger belastende Geschichten. Ein älterer Mann erinnerte sich daran, dass seine erwachsenen Kinder ihn baten, Weihnachten 2022 zu Hause zu bleiben, da er nicht „geboostert“ sei. Er habe dann aber eine schöne ruhige Feier zusammen mit seiner Frau verlebt. Die Beziehung zur Familie hätte nicht unter dem Vorfall gelitten.

Und ein anderer erzählte davon, dass er Heiligabend vor der Hauptkirche in seiner Stadt allein gegen die dort geltende 2G-Regel, also das Betretungsverbot für „Ungeimpfte“, protestiert hatte. Auf seinem Schild stand: „Heuer fällt Weihnachten aus, das Christkind ist nicht geimpft“. Er hatte sich auf ablehnende Reaktionen der Kirchgänger*innen eingestellt. Zu seiner Überraschung erfuhr er viel Zustimmung und erhielt sogar kleine Geschenke. Er fühlte sich ernst genommen und fand es eine „coole Erfahrung“.

Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit

Unsere Einladung, beim Friedensratschlag in Kassel die eigenen Corona-Geschichten zu erzählen, war ein erster Schritt. Wir hörten von materieller Armut, Ausgrenzung, Nichterfüllung von Grundbedürfnissen, Repression, Angst, die eigene Meinung zu äußern, verzerrender Medienberichterstattung, Gruppendruck und vielem anderen. Die geschilderten Erlebnisse waren persönlich, konkret und gingen oft unter die Haut. Aus den Geschichten ergeben sich Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die am besten im gemeinsamen Gespräch weiterentwickelt und beantwortet werden. Erst wenn eine Gruppe die Frage „Was ist wirklich passiert?“ geklärt hat, kann sie das Geschehene sinnvoll politisch bewerten. Für solche weiterführenden Schritte fehlte in Kassel die Zeit.

Unser Fazit aus dem Workshop:

  • Viele in der Friedensbewegung haben einen großen Bedarf nach Austausch über die Erfahrungen in der Coronakrise.

  • Manche Personen sind durch die gemachten Erfahrungen tief erschüttert.

  • Viele persönliche Erlebnisse haben politische Relevanz, da sie aus den Bedingungen des Ausnahmezustands, also der weitreichenden Einschränkung der Grundrechte, folgten.

  • Das gemeinsame Erzählen und Zuhören kann Verbindungen schaffen.

  • Dabei treten gegensätzliche Einschätzungen der Coronapolitik in den Hintergrund.

Mit der positiven Erfahrung aus Kassel möchten wir den Initiativen und Organisationen der Friedensbewegung Mut machen, Gelegenheiten und Räume für das gemeinsame Erzählen der Corona-Erlebnisse zu schaffen. Viele kleine Geschichten und erinnerte Gefühle fächern die von einzelnen Menschen wahrgenommene Wirklichkeit auf. Die Grautöne zwischen dem Schwarz und Weiß werden sichtbar, aus kleinen Puzzleteilen werden Bilder, unverständlich erscheinendes Verhalten wird nachvollziehbar. Es ist unserem Eindruck nach denkbar, dass schon dieser erste Schritt die Zusammenarbeit in einer Gruppe oder Organisation spürbar verbessert. Wir freuen uns über die Zusendung von Kommentaren, Ergänzungen und Berichten über eigene Erzähl- und Dialogformate.

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Stefanie Intveen engagiert sich seit 2014 in der Friedensbewegung. Sie ist Zertifizierte Mediatorin und lebt in Köln. Kontakt: stefanie.intveen@web.de

Dr. Ingrid Pfanzelt ist seit den 1980er Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Sie ist selbständige Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse/Homöopathie in München. Kontakt: privat@dr-pfanzelt.de

i Marion Küpker konnte nicht nach Kassel kommen. Sie nahm an der Vorbereitung teil.bbb