Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt

Vortrag von Hauke Ritz beim 32. bundesweiten Friedensratschlag in Kassel am 09.11.2025

Redaktionelle Bearbeitung der automatisch erstellten Transkription, eingefügte Zwischentitel und einzelne Erläuterungen [in Klammern] : Karl-Heinz Peil
– Inhalt von Hauke Ritz durchgesehen und autorisiert

Deutschland in Europa – ein historischer Rückblick

Deutschland über Jahrhunderte als Zentrum von Kriegen

Mein Vortrag bezieht sich auf den titelgebenden Essay der neu veröffentlichten Sammlung: „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“. In diesem Essay stelle ich die Frage: Wie kann es eigentlich sein, dass Deutschland über die Jahrhunderte hinweg in so vielen Kriegen im Zentrum stand, sei es manchmal als kriegsauslösende Partei, manchmal aber auch als Zankapfel. Das fängt an mit dem deutschen Bauernkrieg [1525] und setzt sich fort im 30-jährigen Krieg [von 1618 bis 1648]. Letzterer war ja auch ein Krieg um die Ausrichtung von Deutschland: Ob es nun protestantisch oder katholisch wird – wobei auswärtige Mächte interveniert haben. Auch der siebenjährige Krieg [von 1756 bis 1763], der bereits eine Art Weltkrieg darstellte, weil er sozusagen auf dem nordamerikanischen Kontinent ausgefochten wurde und ein zweites Zentrum in Deutschland bzw. den einzelnen deutschen Staaten in einer ganz zentralen Rolle.

Das setzte sich dann fort mit den Napoleonischen Kriegen [von 1792 bis 1815], wo Deutschland auch die bei weitem wichtigste Eroberung Napoleons darstellte, die ihm erst die Kraft gab, um dann später Russland anzugreifen. Im Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg war Deutschland noch einmal absolut in der zentralen Rolle und wie im 30-jährigen Krieg der Austragungsort zweier Philosophien, im Kalten Krieg sogar mit einer geteilten Hauptstadt.

Ukrainekrieg und die historische Rolle Deutschlands

Im Kalten Krieg ging es um Kapitalismus gegen Sozialismus – und jetzt? Im Ukrainekrieg ist Deutschland zusammen mit der Ukraine wieder der zentrale Staat, um den es geht. Erstens würde dieser Krieg ohne die deutsche Unterstützung gar nicht möglich sein. Die gesamte Logistik aus den USA kommend, wird über Deutschland abgewickelt. Deutschland war bis vor kurzem der zweitwichtigste Finanzier dieses Krieges. Wir rücken jetzt langsam an die erste Stelle, weil sich die USA zurückziehen. Und es werden natürlich auch deutsche geopolitische Interessen im Ukrainekrieg ausgefochten. Herr Schulenburg hat gestern bereits darauf hingewiesen, dass die Kriegsziele der Obersten Heeresleitung und leider auch des Dritten Reiches hier in leicht veränderter Form wieder auftauchen. Es geht wieder darum, die Ukraine in einen deutschen bzw. westlichen Einflussbereich hineinzuziehen, wie das auch schon die Oberste Heeresleitung im ersten Weltkrieg angestrebt hat.

Deshalb stellt sich die Frage: Warum ist Deutschland in dieser zentralen Rolle durch die ganzen Jahrhunderte hindurch, zumindest in der europäischen Neuzeit? Mit Blick auf die Landkarte fällt natürlich als erstes auf, dass es vielleicht eine geographische Antwort auf diese Frage gibt. Deutschland liegt im Zentrum Europas und es bildet sowohl die Nord-Süd- als auch die Ost-West-Achse. Das heißt: Der gesamte Handel von Norden nach Süden, von Osten nach Westen durchquert Deutschland. Deutschland ist zudem auch noch sehr dicht besiedelt, sozusagen das Bevölkerungszentrum des Kontinents.

Das bedeutet, dass die Richtung, die Deutschland nimmt, in gewisser Weise verbindlich wird für ganz Europa. Und deswegen wurde eben auch schon im 30-jährigen Krieg um die religiöse Zugehörigkeit Deutschlands so intensiv gestritten. Wenn damals Deutschland vollständig protestantisch geworden wäre, dann hätte das Auswirkungen gehabt auf Südeuropa, auf Italien usw. Und wenn es vollständig katholisch geworden wäre, dann mit Auswirkungen Richtung Skandinavien usw. Und im Kalten Krieg wiederholte sich das.

Deutschland und die Ausrichtung Europas

Aber jetzt habe ich zwar vordergründig die Frage beantwortet, warum Deutschland in so viele Kriege verstrickt ist, aber wir sind jetzt nur eine Etage höher gelangt, nämlich zu Europa. Also wenn sozusagen die Ausrichtung Europas verknüpft ist mit der Ausrichtung Deutschlands, dann stellt sich die Frage Warum wird denn heute so intensiv um die vermittelt über Deutschland, um die Ausrichtung Europas gestritten? Und wenn wir dann auf die heutige Welt blickt, dann gibt es ja ganz andere Akteure, die mächtiger scheinen als Europa, also

  • China zum Beispiel mit seiner enormen Wirtschaft, einer großen Bevölkerung,
  • Indien mit seinem ebenfalls riesigen Bevölkerungspotential und dem auch ein wirtschaftliches Potenzial entspricht,
  • Russland mit seinen elf Zeitzonen, seinen riesigen Rohstoffen,
  • der Nahe Osten mit seinen Ölreserven.

Was hat denn Europa? Die Frage werde ich später noch genauer behandeln, vermittelt über die Ukraine, wenn um die Ausrichtung Europas gestritten wird. Denn wir haben ja keine dieser großen Rohstoffe und anderer Ressourcen und das Wirtschaftswachstum des 21. Jahrhunderts wird eher außerhalb Europas stattfinden, d.h. nicht unbedingt bei uns oder nur in sehr kleinen Teilen.

Herr Schulenburg hat gestern auch dargelegt, dass wir bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts nur noch ein sehr geringer Anteil an der globalen Weltbevölkerung haben werden. Was also besitzt denn dieses Europa, dass es so wichtig ist? Hierzu muss man in die Kulturgeschichte zurückgehen und verstehen, was am Anfang der europäischen Neuzeit passiert ist. Die europäische Neuzeit ist ja bestimmt durch eine Abfolge der Imperien, die auf die Welt ausgreifen.
Das erste europäische Imperium, das die europäischen Grenzen verlässt, sind Portugal und Spanien, die dann später durch Heirat der Königshäuser eine Art Arrangement finden.
Dem folgen dann die Vereinigten Niederlande. Das ist ein kleines Land, aber trotzdem haben sie eine Zeit lang ein globales Imperium verwaltet, das bis nach Indonesien und den Indischen Ozean reichte.
Dann kam Frankreich, sozusagen in zwei Schüben, einmal unter dem Absolutismus und dann noch einmal ein zweites Mal unter Napoleon.
Dieses wurde wiederum beerbt von der Macht Großbritanniens, die am längsten dauerte und eigentlich bis zum Zweiten Weltkrieg reichte bzw. auch im Zuge des Zweiten Weltkriegs.
In der Folge des Zweiten Weltkriegs wird die imperiale Macht Großbritanniens in gewisser Weise vererbt an die USA, die in einer Form von Special relationship große Teile des globalen Einflussbereichs Großbritanniens übernehmen und eben auch Techniken der  Machtausübung.

Globale Dominanz durch militärischen Vorsprung

Diese ganze europäische Neuzeit war davon geprägt, dass diese Imperien militärisch die Welt dominierten. Und Europa hatte tatsächlich immer einen entscheidenden militärischen Vorsprung durch die Nutzbarmachung des Schießpulvers für Kanonenboote. Aber alleine mit diesem militärischen Vorsprung, den Europa über viele Jahrhunderte besessen hat, ist nicht zu erklären, wie diese Halbinsel Asiens mit relativ kleinen Staaten wie Großbritannien schließlich Riesenstaaten wie Indien verwalten und kontrollieren konnten. Allein mit militärischen Mitteln wäre das auch nicht gegangen. Und da stellt sich die Frage Was kam denn noch hinzu, dass sogar noch kleinere Länder wie die Vereinigten Niederlande, Portugal so große Imperien aufbauen konnten?

Säkularisierung der Religion in der europäischen Neuzeit

Zivilisation gründet sich auf Religion. Zu Beginn der europäischen Neuzeit, vor ungefähr 500 Jahren fängt in Europa etwas an, das in anderen Kulturkreisen erst viel später anfängt, nämlich die Verweltlichung der Religion. Die Religionen schließen am Anfang alles zusammen, was heute in unserer modernen Zivilisation sich ausdifferenziert hat. Die Religionen enthalten eine Kosmologie und ein Rechtssystem. Sie haben medizinische Vorgaben, eine Ethik, eine Geschichtsschreibung. Das alles ist sozusagen in den Religionen zusammengebunden und differenziert sich später aus. Und in Europa, aus welchen Gründen auch immer, vollzieht sich diese Ausdifferenzierung so weit, dass die Energie und Glaubensvorstellung der Religion sich in andere Medien verweltlicht, das heißt, sie werden in eine andere Sprache übersetzt. Dann werden plötzlich religiöse Vorstellungen in eine rechtliche oder politische  Sprache übersetzt oder in ökonomische oder ästhetische Konzepte. Damit wird plötzlich sozusagen die Kunst zu einer Art Ersatzreligion, die man rezipiert mit der Erwartung, Einsichten zu bekommen und eine kleine Privatoffenbarung zu erfahren.

Das heißt: Europa entwickelte und durchbrach die Bindekräfte der Religion und übersetzte sie in andere Medien. Damit holte man auf diese Weise, wie Hegel es ausgedrückt hat, die Schätze, die die Religion an den Himmel geworfen hat. Die werden von den Europäern ins Diesseits auf die Welt heruntergezogen, in Form von technischem, rechtlichem und politischem Fortschritt. Und als dann die Europäer an fremden Küsten landen, haben sie das im Gepäck. Sie haben das erste Mal eine moderne Kultur geschaffen. Und diese Kombination von militärischer Macht, Gewalt und Unterdrückung natürlich, die die Europäer als Kolonialmächte ausgeübt haben, aber auch dieser Eindruck einer modernen Kultur, die versprach, religiöse Glaubensversprechen mit einem Mal sozusagen in einem säkularen, verweltlichten Medium ansatzweise wieder darzustellen. Das war so beeindruckend auch für die die anderen Kulturkreise, dass sie die militärische Unterdrückung zu einem gewissen Teil auch akzeptierten. Nur durch diesen Eindruck war überhaupt die militärische Macht der Europäer in der Lage, fast die gesamte Welt zu kolonialisieren. Und im Laufe dieser Jahrhunderte hat sich dieser Prozess der Verweltlichung immer weiter fortgesetzt, immer weiter differenziert als soft power für die Europäer.

Das 20. Jahrhundert: Aufstieg der USA

Soft Power: Von Europa zu den USA

Heute nennt man das soft power, also einen kulturpolitischen Einfluss, der den militärischen Einfluss unterstützt. Und im Zuge dessen wurde die europäische Kultur schleichend zur Weltkultur. Ich gehe jetzt nicht auf das ganze Unrecht ein, das die Kolonialmächte in dieser Zeit vollbracht haben. Das wäre ein Kapitel für sich. Ich will nur diesen anderen Aspekt hervorheben, weil der oft nicht so bewusst ist.  Wenn Sie heute nach Lateinamerika fahren und dort mit Menschen über Politik diskutieren, dann tun Sie das mit Begriffen aus der europäischen Geistesgeschichte. Und das gleiche in Indien. Oder wenn Sie schauen, welche Kunstformen sich global ausdifferenziert haben, dann gehen die auch zurück auf die europäische Kunstentwicklung. Das heißt, Europa hat eine Kultur geschaffen, die nicht nur in Europa präsent ist, sondern die die Grenzen Europas überschritten hat und in gewisser Weise zu einem Medium der Verständigung zwischen den Völkern geworden ist. Das hat natürlich einen unglaublichen Einfluss.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die USA nach Europa kamen und in gewisser Weise den Machtbereich des britischen Imperiums nach und nach übernahmen, nutzen sie auch diesen kulturpolitischen Einfluss. Nur mit dem Unterschied, dass sie diesen jetzt nach ihrem Maßstab, nach ihren Möglichkeiten neu auslegten.

Die kulturelle Macht der USA

Was jetzt sozusagen bei den Amerikanern hinzugekommen ist, ist natürlich die  Kulturindustrie Hollywoods als PR-Maschine. Dieses ist die moderne Psychologie, durch die man mit Zielgruppenforschung die eigenen Botschaften ganz anders in die Köpfe bringen kann. Das heißt, die europäische Weltkultur, die in den Jahrhunderten zuvor entstanden ist, wird jetzt von den US-Amerikanern neu interpretiert. Und dabei kommt natürlich zum Tragen, dass die US-Amerikaner zwar von Europa kommen und quasi deren Ableger sind, aber letztlich eine ganz andere Sozialgeschichte haben als die Europäer. Denn kein europäisches Land ist so wie die USA durch Masseneinwanderung entstanden. Kein europäisches Land wurde zusammen mit dem Kapitalismus begründet, wodurch es wenig vorkapitalistische Traditionen in den USA gibt. Und so entstand eine ganz eigenwillige amerikanische Interpretation der europäischen Weltkultur. Und sie hatte von Anfang an stark liberale Vorzeichen. Und diese liberale Ausrichtung der europäischen Weltkultur wurde zur Machtbasis amerikanischen Einflusses in der Welt.

Sicherlich haben die USA 800 oder sogar noch mehr Militärbasen in der Welt und sie haben Flugzeugträger. Aber damit alleine kann man die Welt nicht dominieren, sondern ganz entscheidend sind die Hollywoodfilme. Ebenso entscheidend sind politische Versprechen, politische Vorstellungen, Vorstellungskräfte. Und die gehen zurück auf die europäische Kultur, die im Laufe des Kolonialismus zu einer Weltkultur geworden ist und die von den USA übernommen und neu interpretiert wurde. Ich zeige in meinen beiden Büchern, dass der Kalte Krieg in gewisser Weise ein Kampf um die Frage war: Wird diese europäische Weltkultur jetzt liberal kapitalistisch ausgelegt, wie die Amerikaner sich das vorstellten? Oder wird sie sozialistisch oder zumindest sozialdemokratisch geprägt, wie das eher im Sinne der Sowjetunion gewesen wäre? Das heißt, im Kalten Krieg haben wir sozusagen zwei Varianten der europäischen Weltkultur, jeweils unter unterschiedlichen Vorzeichen liberal oder sozialistisch. Man könnte auch die Werte der Französischen Revolution benennen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Worum ging es im Kalten Krieg?

Diese Werte haben sich im Kalten Krieg geteilt. Auf westlicher Seite stand die Freiheit und auf sozialistischer Seite die Gleichheit und Brüderlichkeit. Und darum ging es im Kalten Krieg, der ja nicht militärisch ausgefochten wurde, wenngleich Raketen und Panzer eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch die Wirtschaftsleistung war ein Streitpunkt und sicherlich hatte der Westen eine überlegene Wirtschaftskraft. Aber ganz entscheidend war eben auch: Wie wird diese europäische Kultur, die eben die erste moderne Kultur der Welt war, wo die religiösen Bindungskräfte in neue Sprachen und Medien übersetzt worden sind. Wird die liberal-kapitalistisch ausgelegt oder sozialdemokratisch-sozialistisch? Am Anfang des Kalten Krieges hatte die Sowjetunion einen Vorteil, weil nämlich der Liberalismus nach einer langen Epoche am Ende des Zweiten Weltkriegs sehr diskreditiert war.

Kapitalismus, Arbeiterbewegung, Faschismus, Sozialismus

Das fing bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts an, und es waren liberal gesonnene Eliten, die auch im Ersten Weltkrieg miteinander in Streit geraten waren. auch der zweite Weltkrieg war nur möglich durch die liberalen Exzesse an den Finanzmärkten in den USA, durch welche die Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde. Deshalb bestand unter vielen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg die Vorstellung, dass der Faschismus die Kehrseite eines enthemmten Liberalismus ist, dass also, wenn die Eigentumsordnung bedroht wird durch den Aufstieg sozialistischer Parteien und durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung, dass dann quasi die Eliten einen extremen Nationalismus predigen, um das wieder einzudämmen.

Das führte dazu, dass zum Beispiel Max Horkheimer sagte: „Wer über den Kapitalismus nicht reden will, der soll über den Faschismus schweigen.“ Auch viele andere Intellektuelle wie z.B. Picasso oder Einstein hatten Sympathien mit dem Sozialismus. Und dazu gab es die, die die Institutionen der Arbeiterbewegung, die in Frankreich, Italien auch Verlagshäuser und Zeitungen hatten. Sie waren theoretisch Ansprechpartner für die Sowjetunion. Und hinzu kamen noch die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, die natürlich auch mit dem Sozialismus sympathisierten, insofern er eine Kritik des Imperialismus enthielt.

Die Sowjetunion als globales Vorbild

Hinzu kam noch, dass die Sowjetunion für viele ehemalige Kolonien und auch Länder wie China ein Vorbild der Entwicklung war. Denn die Sowjetunion hatte ja vorgemacht, wie man in 40 Jahren einen Agrarstaat mit 50 % Analphabeten entwickeln kann. Im russischen Teil des Zarenreichs waren es damals 1/3 Analphabeten, im nichtrussischen Teil (zumeist Zentralasien) sogar ungefähr 2/3. Dort gab es faktisch keine Industrie. Sibirien war noch nicht industrialisiert, und in nur 40 Jahren wurde ein riesiger Entwicklungsprozess nicht nur im europäischen Teil der Sowjetunion angestoßen, sondern bis nach Sibirien und Zentralasien. Universitäten wurden errichtet. Eine ganze Generation, die quasi noch deren Eltern noch unter sehr einfachen Bedingungen gelebt hatte, erhielt Bildung, teilweise Universitätsbildung.

40 Jahre nach der russischen Revolution ist es die Sowjetunion, die den ersten Satelliten ins Weltall schickt. Das ist in China nicht unbeobachtet geblieben, und das hat man auch wahrgenommen in Indien sowie in anderen ehemaligen Ländern der Dritten Welt. Und selbstverständlich orientierten sie sich für ihre eigene Entwicklung mehr an der Sowjetunion als an den USA.
Das heißt: Am Anfang des Kalten Krieges sahen sich die USA ideologisch in der Defensive, obwohl sie eine politische Philosophie und einen Liberalismus hatten, der bei ihnen zwar funktionierte, Dieser war aber unter sehr besonderen Bedingungen mit ihrer Besiedlungsgeschichte in ihrem Land entstanden. Dass war natürlich nicht übertragbar auf Europa und auch nicht in die übrige Welt, wo überall Kulturen existieren, die viel älter sind als der Kapitalismus. Und das führte dazu, dass sie sich gezwungen sahen, kulturpolitisch in die Offensive zu gehen, um diesen Streit um die Ausrichtung der europäischen Weltkultur für sich zu entscheiden. Am Anfang sah noch in den 50er und 60er Jahren so aus, dass es ein kaum zu brechenden Trend in Richtung einer gerechten Gesellschaft gibt.

Die Sowjetunion als Verlierer im Kulturkrieg

In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die konservativen Kräfte in Italien, Frankreich und Deutschland sozial orientiert und hatten das Bild einer gerechten, kohärenten, integrativen Gesellschaft vor Augen. Es gab fast keine Basis für für einen enthemmten Liberalismus in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die USA operierten aber in dieser Umgebung. Sie mussten jetzt einen Kalten Krieg gegen den Sozialismus organisieren, während Westeuropa selbst in ihren Augen eigentlich sozialistisch war. Das heißt, Europa war der Kontinent, wo das politische Pendel pendelte zwischen Konservativismus und einem sozialen Konservativismus, Sozialismus oder Sozialdemokratie. Der Liberalismus spielte eine untergeordnete Rolle, und die USA sahen ihre Aufgabe darin, die weitere Entwicklung der europäischen Weltkultur, die sie durch ihre Weltmachtposition zumindest im Westen übernommen hatten, so zu lenken, dass der amerikanische Liberalismus als Ausnahmeerscheinung für die Welt verbindlich wird.
Dazu musste dieser erst für Europa verbindlich werden, da von Europa die Weltkultur geprägt war. Und so wurde der Kalte Krieg ein Kampf um die kulturelle Ausrichtung Europas. Und der Vorteil, den die Sowjetunion noch in den ersten 20 Jahren des Kalten Krieges hatte, begann tatsächlich zu schwinden, weil es den USA und Westeuropa gelang, sich kulturell in den 60er und 70er Jahren neu zu erfinden.

Die Neuerfindung des Westens im Kalten Krieg

Es gab einen unglaublichen kulturpolitischen Modernisierungsschub, den der Westen in den 60er und 70er Jahren durchlaufen hat, die man als kulturpolitische Wasserscheide bezeichnen kann. Seitdem leben wir sozusagen in einer leicht veränderten Kultur. Und dies bedingt, dass die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft schwindet, an Einflusskraft verliert und Kräfte die Oberhand gewinnen, die sagen: „Lasst uns doch mehr Liberalismus und mehr Ungerechtigkeit wagen.“ Damit wurde die Entstehung des Neoliberalismus vorbereitet.

Linke Bewegungen distanzierten sich etwas von den Themen der klassischen Arbeiterbewegung. Es ging jetzt nicht mehr vorrangig um Kapital und Arbeit oder Krieg und Frieden oder Imperialismuskritik. Vielmehr treten ganz viele Nebenthemen in den Vordergrund: Emanzipation der Frau, Emanzipation von Minderheiten, das Verhältnis von Natur und Zivilisation. Diese Themen werden zwar wichtiger, sind aber integrierbar in den Kapitalismus. Das heißt, während der Kapitalismus Schwierigkeiten hat, die Idee einer gerechten Gesellschaft dauerhaft in seine Logik zu integrieren, kann er aber solchen Minderheitenschutz, ein etwas anderes Geschlechterverhältnis, den Schutz der Umwelt zulassen. Diese können sogar dazu dienen, die Exzesse des Kapitalismus sinnvoll zu zu korrigieren.

Damit erfand sich der Westen neu im Kalten Krieg und nun endet diese Kulturpolitische Innovation erfolgreich damit, dass in den 80er Jahren auch viele Menschen in der Sowjetunion und sogar deren Elite, wie z.B. Michail Gorbatschow, irgendwie das Gefühl haben, sie vertreten etwas Altmodisches, etwas Abgestandenes und dann selbst anfangen, sich mit dem Westen zu identifizieren.

Es gibt dazu ein eindrucksvolles Beispiel. 1959 gab es ein Gespräch zwischen Richard Nixon, dem damaligen US-Vizepräsidenten, und Chruschtschow anlässlich einer US-Ausstellung in Moskau, wo die Amerikaner ihre Küchen vorstellten, die sogenannten „Küchendebatte“ [siehe dazu den entsprechenden Wikipedia-Artikel] In diesem Gespräch wurde deutliche, dass das die damaligen sowjetischen Eliten, hier vertreten durch Chruschtschow, noch sehr von Glaubensvorstellungen beseelt waren, dass sie die richtige politische Philosophie haben, dass ihnen die Zukunft gehört. Es gab dabei den berühmten Spruch von Chruschtschow gegenüber Nixon: „Auch ihre Enkel werden Kommunisten sein.

Später in den 80er Jahren, wenn man dann hört, wie Gorbatschow spricht und auch dessen Umfeld, dann merkt man, dass dieser Glaube an die eigene politische Philosophie und dem entsprechende Geschichtsentwicklung gebrochen ist, womit auch im Osten eine Identifikation mit der westlichen Entwicklungslogik eingetreten ist. Es sah ja tatsächlich in den 80er Jahren so aus, als ob der Westen die Quadratur des Kreises geschafft hätte mit einer immer noch recht sozial ausgeglichenen Gesellschaft mit liberaler Freiheit und Konsumkultur. Der Westen errang sozusagen im Laufe des Kalten Krieges eine kulturpolitische Hegemonie. Er entschied den Kulturkampf für sich und begünstigte auf diese Weise die Selbstabwicklung des Sozialismus.

Kulturkrieg auch nach dem Ende des Kalten Krieges

Und wenn man so „erfolgreiche“ Kulturpolitik durchgeführt hat. dann hört man damit ja nicht auf. Es gehört zum Gesetz der Geschichte, dass einmal entdeckte Machtmittel auch weiter benutzt werden. Und so wurde diese Kulturpolitik nach dem Ende des Kalten Krieg von westlicher Seite mehr oder weniger fortgesetzt. Es kamen jetzt noch die NGOs [Non Government Organizations] dazu. Während man am Anfang des Kalten Krieges monolithische Organisationen hatte, wie den Kongress für kulturelle Freiheit [siehe Wikipedia-Artikel], die quasi die Kulturpolitik bündelten, hat sich das dann immer weiter ausdifferenziert. Bereits während des Kalten Krieges und noch verstärkt nach dessen Ende stützte man sich immer stärker auf eine Vielzahl an Organisationen. DAs anonymisierte diese Prozesse und gab ihnen viel mehr den Charakter einer natürlichen Entwicklung. Und es ging nun darum, die liberale Interpretation der europäischen Kultur zu verankern, wo nur die Freiheit im Zentrum steht, nicht die Gleichheit, nicht die Brüderlichkeit, wo nur das Individuum im Zentrum steht und nicht soziale Bindungskräfte und nicht kollektive Traditionen. Diese Interpretation sollte für ganz Europa verbindlich gemacht werden und zum einzigen Ausdruck der europäischen Weltkultur werden. Denn wenn es zwei Interpretationen der europäischen Kultur gibt, dann gibt es eine Vergleichbarkeit und man kann Dinge infrage stellen und alternative Entwicklungspfade diskutieren.

Wenn aber Gesamteuropa von dieser amerikanischen Interpretation der europäischen Kultur dominiert wird, dann gewinnt es einen totalitären Charakter und man kann sich etwas anderes nicht mehr vorstellen. Und hier spielte nun natürlich jetzt Osteuropa eine entscheidende Rolle. Man musste sozusagen diese Kulturpolitik, die die USA im Kalten Krieg ausgebildet haben und die sie nach dem Kalten Krieg intensivierten, nach Osteuropa tragen. Das war kein großes Problem in den kleineren osteuropäischen Staaten, die ja abhängig und auch nie selbst Imperien gewesen waren. Lediglich Polen was das mal für sehr kurze Zeit. Deshalb fehlten auch die Widerstandskräfte mit der Tradition von Staatlichkeit, um sich diesem Trend entgegen zu stellen. Völlig anders war es aber im Falle Russlands, als zweite Supermacht im Kalten Krieg. Russland hat eine lange Geschichte von Staatlichkeit und immer das Konzept eines starken Staates vertreten, was auch notwendig war, um über viele Zeitzonen mit vielen Ethnien und Völkern zu existieren. Und die russischen Eliten hatten anders als die Eliten der baltischen Staaten oder Tschechiens usw. schon die Fähigkeit, sich im Prozess der Geschichte zu orientieren. Und weil die Sowjetunion selbst hochentwickelte Geheimdienste hatte, kannten sie auch alle Machttechniken, die in der modernen Welt ausgeübt wurden. Diesen Hintergrund verstanden die russischen Eliten viel stärker als die deutschen und französischen Eliten.

Welche Chancen hat Europa heute?

Mittlerweile geht es darum, die die US-Amerikaner verstanden haben, dass in dieser neuen  Weltordnung für sie  eigentlich kein Platz ist. Das heißt, wenn sie sich auf diese Prozesse der Globalisierung, auch auf der kulturellen Ebene einlassen würden, sie ihre kulturpolitischen Bindungskräfte, die das Land auch zusammenhalten, verlieren würden und möglicherweise mit ihrer Fragmentierung konfrontiert werden. Deshalb mussten sie dieser Entwicklung widersprechen und sich dem tendenziell entziehen, einfach aus Selbstschutz.

Mit dem weiterem Fortschreiten dieser Prozesse musste für Russland immer deutlicher werden, dass es bestimmte kulturpolitische Entwicklungen der westlichen Welt und Europas nicht nachvollzieht. Das zeigt sicvh am Beispiel der NGOs. Diese unterliegen in Russland einer ganz anderen Kontrolle und Regulierung als in anderen Ländern. Es gab bestimmte Konfliktpunkte wie der Streit um die Punkband Pussy Riot, wo diese Unterschiede sehr deutlich wurden. Auch diesem Vorfall habe ich in meinem Buch einen Essay gewidmet.

Auf diese Weise bleibt Russland in der traditionellen, modernen Interpretation der europäischen Kultur, während sich im Westen erst in Westeuropa, später dann im ganzen Europa zusammen mit den USA eine postmoderne Interpretation der europäischen Kultur ausgebildet hat. Die Tatsache, dass es jetzt zwei Interpretationen gibt, ist nun für die USA ein Problem, weil dadurch eine Vergleichbarkeit entsteht. Deswegen geht es In diesem Konflikt, den wir derzeit zwischen den USA und der Ukraine erleben, letztlich auch um die Interpretation der europäischen Kultur.

Kultur ist eben auch ein Potenzmittel, ein Machtmultiplikator in der Welt, weil sie globalen Einfluss hat. Das gilt zum Beispiel nicht für die indische und die japanische Kultur oder andere, die später in die moderne Welt eingetreten sind. Deswegen haben wir diesen Prozess der Säkularisierung, den Prozess der Übersetzung religiöser Inhalte in eine moderne Sprache und moderne Formen, den andere Kulturen noch nicht durchlaufen haben oder hierbei noch am Anfang stehen.

Was hat Westeuropa zu bieten?

Wir haben nicht wie im Nahen Osten große Ölreserven. Wir haben nicht wie China eine Wirtschaft mit einem gigantischen Wachstumspotenzial. Aber Europa hat ist die Wurzel der Entstehungsort der ersten modernen Weltkultur mit globaler Ausstrahlungskraft. Die Supermächte USA und Russland streiten sich um die Ausrichtung und Interpretation dieser Kultur, wobei Russland eher in einer defensiven Position ist und eigentlich nur seine kulturpolitische Souveränität für sich selbst behalten will, weil andernfalls das Land nicht regierbar wäre. Aber dadurch entsteht das Problem der Vergleichbarkeit und die USA haben versucht, die Ukraine als Instrument und Rammbock gegen Russland einzusetzen. Das haben sie ja auch in verschiedenen Dokumenten ganz offen geschrieben, z.B. in einem Bericht der RAND Corporation, der vor dem Ukrainekrieg veröffentlicht wurde. Dort steht, dass Sie Russland aus der Balance bringen möchten mit einem Regime Change, der eine liberale gesonnene Elite an die Macht bringen würde, so dass Russland in eine Position kommt, wo es seine kulturpolitische und vielleicht auch sonstige Souveränität verliert. Das Ziel dabei wäre gewesen, die amerikanische liberale Interpretation der europäischen Gesellschaft Kultur für ganz Europa einschließlich Russland verbindlich zu machen. Eben dieser Prozess droht jetzt zu scheitern, weil Russland sich nicht hat destabilisieren lassen und seine Balance behalten hat. Dadurch gibt es jetzt diese zwei Formen von europäischer Kultur. Das impliziert einen  Vergleich herzustellen, mit dem die Relativität der amerikanischen Interpretationen unserer Kultur sichtbar wird. Das impliziert auch, dass wir die Chance haben, souverän zu werden und vielleicht die Vision eines postatlantischen, postamerikanischen Europas ins Auge fassen können.

Worin unterscheiden wir uns von den USA?

Damit müssten wir uns auch klarmachen, dass wir eine andere Zivilisation sind als die USA. Die USA kommen zwar von Europa, aber unter dem Einfluss ihrer Besiedlungsgeschichte und dem Einfluss einer anderen Geografie dieses Kontinents eine andere Kultur entwickelt.

Besonders deutlich werden die Unterschiede, wenn es um die Gerechtigkeitsansprüche gegenüber der Gesellschaft wird. Europa steht für eine gerechte, ausgeglichene Gesellschaft, während die USA einem Liberalismus frönen, der auch Ungerechtigkeit und Armut breiter Gesellschaftsschichten zulässt.

Europa hat eine ganz andere Verhältnis zur Kunst, ein ganz anderes Verhältnis zur ästhetischen Erziehung des Menschen als die USA. Kunst wird zum großen Teil nur als Unterhaltung angesehen. Der Unterschied zwischen ernster Kunst und Unterhaltungskunst wird dort nicht so gemacht wie bei uns.

Die Amerikaner interpretieren die Welt nach dem Muster von Gut und Böse. Das heißt, sie haben in ihrer gesamten politischen Geschichte immer Feinde außerhalb ihrer Grenzen identifiziert.

Gibt es eine europäische Identität?

Die Europäer haben seit dem Westfälischen Frieden [1648] gelernt, Diplomatie dem Krieg vorzuziehen und mit der Andersartigkeit leben zu können. Das heißt zu akzeptieren, dass der andere Protestant oder Katholik ist, d.h. keine Ausschließlichkeit im religiösen Glauben, um den es noch im 30-jährigen Krieg ging. Es käme jetzt darauf an, nach dem gescheiterten Versuch zur Ausdehnung des Liberalismus amerikanischer Prägung über ganz Europa wieder ein Bewusstsein davon erlangen, was uns von den USA unterscheidet, nämlich die Vision eines europäischen Europas. Denn die EU ist nicht europäisch, denn sie bezieht sich nicht auf die europäische Kulturgeschichte. Sie bezieht sich weder auf den Humanismus noch auf die Epoche der Aufklärung, nicht auf das 18. oder 19. Jahrhunderts. Sie bezieht sich nur auf die 80 Jahre, seitdem die Amerikaner hier sind. Und deswegen sind auch auf den Geldscheinen der Euronoten ausgedachte Gebäude, ausgedachte Brücken, ausgedachte Fenster. Da ist nicht der schiefe Turm von Pisa drauf, das Kolosseum, der Eiffelturm. Das zeigt, welches Verhältnis diese EU zur europäischen Geistesgeschichte und Architekturgeschichte einnimmt. Wir brauchen ein europäisches Europa, das wieder seine Zivilisationsmerkmale ausprägt, die eben anders sind als die der USA.