Die Friedensfrage im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung
Die Friedensfrage im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung
vom November 2021
Positionspapier von PD Dr. Johannes M. Becker, Wolfgang Gehrcke, Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, Prof. Dr. Karin Kulow, Prof. Dr. John Neelsen, Prof. Dr. Norman Paech, Prof. Dr. Werner Ruf, Prof. Dr. Wilfried Schreiber, Botschafter a. D. Dr. Dr. hc. Arne Seifer, Dipl. Politikwissenschaftler Achim Wahl | Berlin, 02.01.2022
Erstens: Chance und Herausforderung
Die Ablösung einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung und die Implementierung einer Koalitionsregierung unter Führung der SPD stellt für die Friedens- und Abrüstungsbewegung Chance und Herausforderung zugleich dar. Eine konstruktive Opposition muss für die Friedensfrage ein eigenes realpolitisches Konzept erarbeiten. Dabei ist die neue Regierung in ihren Ankündigungen für eine stärker friedensorientierte Außen- und Sicherheitspolitik beim Wort zu nehmen und an ihren Taten zu messen.
Ansatzpunkte hierfür bestehen z.B. in Absichtserklärungen zur
- „umfassenden Sicherheit“ und Stärkung der Krisenprävention und des zivilen Krisenmanagements,
- wobei die „Außenpolitik aus einem Guss“ ressortübergreifende Strategien erarbeiten soll;
- Wiederbelebung des internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozesses;
- Stärkung der Vereinten Nationen als wichtigster Institution der internationalen Ordnung;
- Unterstützung internationaler Abrüstungsinitiativen und Nichtweiterverbreitungsregimes;
- Teilnahme als Beobachter bei der Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags;
- Ablehnung letaler autonomer Waffensysteme;
- Unterstützung der friedlichen Nutzung des Weltraums und des Cyber-Raumes;
- Unterstützung der Leitlinien für Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensforschung;
- Führung eines aktiven Dialogs mit den Bürgerinnen und Bürgern über internationale Politik;
- Unterrichtung des Bundestages vor und nach wichtigen internationalen Gipfeln.
Ob diese Absichtserklärungen reale Ansatzpunkte für eine Politik der Entspannung sind oder Täuschungsmanöver bzw. Selbsttäuschung der Ampelparteien, kann angesichts der inneren Differenzen dieser Koalition noch nicht exakt abgeschätzt werden.
Zweitens: Widersprüche des Koalitionsvertrages
Der Koalitionsvertrag ist in sich widersprüchlich, absichtsvoll vage und in Bezug auf bestehende Konflikte parteiisch formuliert. Er gibt Anlass zu Befürchtungen, dass die zunehmend konfrontationsorientierte Linie der Merkel-Regierung fortgeschrieben bzw. noch verschärft wird. Davon zeugen Aussagen des Koalitionsvertrages
- zur Stärkung der „regelbasierte Ordnung“ des transatlantischen Westens respektive einer „wertebasierten“ Außenpolitik sowie der apodiktischen bürgerlich-westlichen Demokratie-Vorstelllungen im Rahmen der NATO;
- zur Weiterführung der Droh- und Sanktionspolitik gegen Russland und China;
- zur Fortsetzung der nuklearen Teilhabe angesichts der im November erfolgten Reaktivierung des 56. Artillerie-Kommandos der US-Armee, das ab 2022 neue nukleare Mittelstreckensysteme gegen Ziele in Russland und Afrika stationieren und führen soll;
- zur Ankündigung von weiteren Interventionseinsätzen der Bundeswehr;
- zur weiteren Erhöhung der Rüstungsausgaben und der Anschaffung neuer Offensivwaffensysteme (u.a. bewaffnete Drohnen);
- zur „Wiederherstellung der vollen territorialen Integrität und Souveränität“ der Ukraine.
Diese Aussagen widersprechen den o.g. Absichtserklärungen zu Entspannung und Rüstungskontrolle und stellen auch die Erreichung der angestrebten Klimaziele sowie weiterer internationaler Kooperationsvorhaben infrage.
Drittens: Grundsätze für eine realpolitischen Friedenspolitik
Eine effektive und realpolitische Opposition zur Außen- und Sicherheitspolitik der regierenden Ampelkoalition sollte sich vor allem von folgenden Grundsätzen leiten lassen:
- Notwendig ist ein komplexeres Verständnis der Friedensfrage, das über Antimilitarismus und Pazifismus hinausgeht und sich verstärkt auf konkrete Forderungen zu einer neuen Entspannungspolitik fokussiert.
- Inhalt und praktische Aktivitäten der Friedensarbeit sollten sich an den geostrategischen Konfliktlinien orientieren. Dabei geht es um die Ausschöpfung des Potentials für eine kooperative statt Unterstützung einer konfrontativen Außenpolitik. Die gegenwärtige Zuspitzung der geostrategischen Rivalität und Konfrontation beinhaltet die Gefahren einer unkontrollierbaren Eskalation.
- Friedenspolitik beginnt beim Ringen um Abbau der Rivalitäten und realen Konfrontations-Beziehungen. Das heißt:
- Einhaltung der Grundsätze des Völkerrechts zur Achtung der Gleichberechtigung und des Gebots zur Nichteinmischung sowie zur Achtung der staatlichen Souveränität.
- Keine Unterstützung völkerrechtswidrig selbstmandatierter Oppositionsbewegungen bzw. von Partnern aus der Zivilgesellschaft‘ in anderen Ländern bei einer Politik des „regime change“.
- Das Dialog-Verständnis Deutschlands muss auf die Einhaltung der Grundsätze der UN-Charta und der friedlichen Koexistenz gerichtet sein und nicht auf der anmaßenden Durchsetzung einer sog. „regelbasierten Ordnung“, die nicht ihre Grundlage im Völkerrecht hat.
- Eine „wertebasierte“ Außenpolitik sollte sich demgemäß an den Prinzipien der UNO-Charta von 1945 orientieren statt am neokolonialistischen Universalitätsanspruch des transatlantischen Westens.
- Bereitschaft zu breiten Bündnissen im nationalen wie im zwischenstaatlichen und im internationalen Rahmen – auch auf der Basis eines Minimalkonsenses.
- Für die eurasischen Staatenbeziehungen einen diplomatischen Ansatz friedlicher Koexistenz, unter den vielfältigen soziokulturellen und religiösen Bedingungen zu entwickeln.
Viertens: Verantwortung Deutschlands für Frieden und Stabilität
Eine effektive und realpolitische Opposition zur Außen- und Sicherheitspolitik der regierenden Ampelkoalition ist vor allem darauf richten, dass Deutschland und die Europäische Union mehr Verantwortung zur Wahrung von Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt übernehmen müssen. Das heißt:
- Sie sollten weniger als eigenständige geostrategische Player oder Erfüllungsgehilfen der USA, sondern strategisch souverän, im Sinne der UN-Charta, als Mittler zwischen den Rivalen agieren; also Fortsetzung der traditionellen Kultur der militärischen Zurückhaltung statt Teilnahme an einer Politik der Sanktionen und Interventionseinsätze.
- Im Vordergrund sollte die langfristige Forderung nach Auflösung der NATO und Überführung in eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur unter der Einbeziehung Russlands stehen.
- Das unausgewogene, z.T. konfrontative Auftreten gegen China und Russland verhindert nicht nur normale politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen, sondern konterkariert auch die von der Ampelkoalition als „oberste Priorität“ angestrebten Klima- und Nachhaltigkeitsziele. Wesentliche Vorstellungen zur Klima- und Energieaußenpolitik im Koalitionsvertrag sind damit zum Scheitern verurteilt.
- Eintreten für einen grundlegenden Kurs- und Perspektivwechsel gegenüber Russland und China. Dabei ist unter den neuen Bedingungen an die Entspannungspolitik und Beziehungen „strategischer Partnerschaften“ früherer SPD-geführter Regierungen anzuknüpfen.
- Deutschlands eurasische kontinentale Verortung zum gegenseitigen Vorteil in den Blick nehmen. Ein Verhältnis friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit könnte den Doppelkontinent zum globalen wirtschaftlichen Gravitationszentrum machen.
- Einhaltung der Prinzipien der „Helsinki Schlussakte“ sowie der „Charta von Paris“ durch deren Signaturstaaten. Im Rahmen der OSZE sollten deren Signaturstaaten sich erneut dazu verpflichten, deren Prinzipien und Grundregeln einzuhalten. Dabei geht es prioritär um eine „Revitalisierung und Weiterentwicklung der europäischen Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur“ (lt. Beschluss des Bundestags, Nov. 2020).
Die im Vertrag der Ampelkoalition programmatisch beanspruchte „Verantwortung für Europa und die Welt“ bleibt jedoch in wesentlichen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Klimapolitik hinter den Möglichkeiten Deutschlands und den globalen Notwendigkeiten zurück. „Verantwortung für Europa und die Welt“ muss sich dabei vor allem an der Gewährleistung von Frieden und Stabilität messen lassen.