20 Jahre Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden
von Dr. Matthias Engelke
Rezension zu
Wilhelm Wille: Sie sagen Frieden, Frieden … 20 Jahre Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden (FFE). Schwerpunkte „Friedensethischer Prozess“ und „Kairos Palästina“. Dokumentationsteil, zusammengestellt von Dirk-M. Harmsen. edition pace 11. Herausgegeben im Auftrag des FFE-Leitungskreises – in Kooperation mit dem Ökumenischen Institut für Friedenstheologie. Norderstedt 2020.
Dieses Buch dokumentiert zwanzig Jahre Arbeit des Forums Friedensethik, FFE in der – und nicht der – evangelischen badischen Landeskirche. In einem berichtenden Teil von Wilhelm Wille und einem Dokumentationsteil, zusammengestellt von Dirk-M. Harmsen, beide Gründungsmitglieder und Mitglieder im Vorstand von Forum Friedensethik, wird dem Leser und der Leserin die Gründung dieser Initiative, ihre Arbeit mit ihren Höhepunkten und Schwierigkeiten nahe gebracht: Die Anfänge zu Beginn des Kosovo-Jugoslawienkrieges 1999 werden plastisch vor Augen geführt, Bemühungen um einen Dialog mit der Militärseelsorge, der Beginn der Themenreihe Israel-Palästina, Ausarbeitung der Friedenslogik im Unterschied zur Sicherheitslogik und der ausführlich geschilderte Aufbruch der Friedensinitiative der Badischen Landeskirche und dem Programm „Sicherheit neu denken“.
In diesem Rückblick mitsamt den Dokumenten erscheint die evangelische Friedensethik des gerechten Friedens in einer ausgesprochen klaren Gestalt, die m. E. darin bislang unübertroffen und damit beispielgebend ist:
- Sie ist an der Botschaft Jesu vom Reich Gottes orientiert und bringt die Inhalte der Bergpredigt und des Vaterunsers (77ff) in die aktuelle Diskussion ein,
- sie verfolgt einen dialogischen Ansatz: Gemäß dem Quäker-Motiv „speak truth to power“ (121) wird unaufhörlich das Gespräch mit politisch Verantwortlichen gesucht,
- sie ist zuverlässig und beharrlich, ein einmal aufgenommenes Thema wird durch die Zeit getragen (Israel/Palästina) und wo kein Widerhall erklingt, wird dennoch wieder nachgefragt (Militärseelsorge),
- sie ist parteiisch, indem sie für die Perspektive der Opfer eintritt, so vor allem im Palästina-Israel-Konflikt, wenn als Grundsatz formuliert wird „‘Nicht Israel versus Palästina, sondern Gewalt gegen gewaltlose Konfliktregelung‘“ (85) und
- praktiziert den Perspektivwechsel, indem z. B. die iranische Sicht auf Grund ihrer erlittenen kolonialen Vergangenheit betont wird (353f).
Zugleich zeigt dieses Buch eine Grenze der bisherigen Ethik des gerechten Friedens auf. Die einleitende Predigt von Manfred Jeub „‘Sie sagen Friede, Friede…‘“ zu Jer 8,6ff spricht es bereits an: Wie kann es Frieden ohne Wahrheit geben? „Ohne Wahrheit weder Gerechtigkeit noch Frieden. Sollte es sich so verhalten?“ (28)
Diese Frage durchzieht das ganze Buch:
- Immer wieder wird die Wasserscheide deutscher Außenpolitik angesprochen, d. i. die deutsche Beteiligung im Krieg gegen Jugoslawien 1999 mit den damit einhergehenden Lügen – zugleich die Geburtsstunde des Forums Friedensethik. Das Versagen der Kirchenleitungen diesem Krieg gegenüber ist bis heute nicht aufgearbeitet.
- Es wird an die Lügen zu Beginn des Irakkrieges erinnert.
- Es wird davor gewarnt in den Afghanistankrieg einzutreten und hernach dafür geworben, das Mandat für die Bundeswehr dort nicht zu verlängern.
- Es wird betont, dass es „‘wahrheitsgemäß‘“ ist zu sagen: Die “‘Liebe zu Gottes Volk‘ gebiete … zu sagen: Frieden für dieses Land können Israelis und Palästinenser nur zusammen finden und nicht gegeneinander.‘“ (87)
- Im Vorfeld einer neuen EKD-Denkschrift wird betont, „dass kein Raum mehr bleibt für die Vorstellung einer militärischen Friedenssicherung auf globaler Ebene, wenn man den Begriff des Gerechten Friedens konsequent zu Ende denkt.“ (119)
- Es steht die Frage im Raum „‘Müsste nicht aus christlicher Sicht für die Gewaltfreiheit als einziger Option eingetreten werden?‘“ (133)
- Ullrich Hahn wird zitiert, der bekennt, „‘Jesus steht nach meiner Glaubensüberzeugung immer und ausschließlich auf der Seite der Unbewaffneten.‘“ (139)
- Eine Landeskirche, die sich so entschieden wie kaum eine andere für ein anders Denken der Sicherheit einsetzt, ist zugleich in der Leitungsebene ängstlich, sich auf den Ruf von Christen aus Palästina gegenüber einzulassen und findet stattdessen ihnen gegenüber einen belehrenden Ton (332). Diese Spannung wird dokumentiert. Warum streben diese Haltungen so weit auseinander?
Die Stellungnahmen, Schreiben und Erklärungen wenden sich an Kirchenleitende, Politiker und Personen des öffentlichen Lebens. Sie leisten damit sozusagen einen Teil der Seelsorge und Gewissensschärfung für Menschen in verantwortlichen Aufgaben und Ämtern. Gerade rückblickend auf zwanzig Jahre Friedensarbeit wirft es die Frage auf, worin die Ohnmacht vieler Erklärungen begründet liegt, die sich zwar als wahr herausstellen, denen aber die Gültigkeit verwehrt wurde und wird, z. B. in den Beiträgen zum Krieg in Afghanistan und zur mehrfachen Zumutung der Atombomben? Gäbe es Alternativen zu dieser Ausrichtung bzw. Ergänzungen z. B. durch eine gemeindenahe oder gemeindeorientierte Friedenstheologie? Würde es sich lohnen, den gesellschaftlichen (Segregationalismus), wirtschaftlichen (Armutsproduktion), kulturellen (u.a. Rassismus und Sexismus) und geistig-geistlichen (Konstantinismus) Gründen des Gewaltglaubens, der sich zuletzt in Kriegen manifestiert, mehr nachzugehen, sie herauszuarbeiten und frei zu benennen?
Wilhelm Wille erinnert an Bonhoeffers Diktum „‘Die Wahrheit ist konkret, wer im Allgemeinen bleibt, bleibt in der Lüge.‘“ (162, Nachweis dort) Dieses Wort selbst ist nicht konkret. Es bedarf also doch einiger grundsätzlicher Überlegungen, wenn es um die Wahrheit geht. Der Begriff der Konkretion entstammt dem Aristotelismus. Es meint das Zusammen-wachsen (con-crescere) von Stoff („hyle“) und Form („eidos“ oder „morphe“) im Begriff jeder einzelnen vorfindlichen Gestalt (Historisches Wörterbuch der Philosophie 1,35).
Für Christen wird die Wahrheit in Jesus von Nazareth konkret (Jh 14,6). Im christlichen Kontext erhält der Begriff Konkretion dadurch eine weitere Bedeutung: Im Bekenntnis zu Jesus Christus wachsen ineinander, was in jüdischer Tradition von Gott zu sagen ist und alles, was menschlich ist. Damit wird die Wahrheit personal. Worin wirkt sich dies aus? Dass Aussagen Kriterien der Richtigkeit erfüllen, wird zu einem Maßstab für Verlässlichkeit. Die Liebe fürs Leben treibt zu Verlässlichkeit und Treue. Die Liebe Jesu und seine Botschaft, die in seiner Gemeinde lebendig sind, eröffnen Wege zur Überwindung von Gewalt durch Geduld, Feindesliebe, das Eintreten für das Recht der Opfer und dem völligen Abstehen von tötender Gewalt. Hier berührt sich das personale Verständnis des Friedens in Jesus Christus (Eph 2,14) mit dem personalen Verständnis der Wahrheit der christlichen Gemeinde. Wie also, fragt sich der Rezensent, ist ein gerechter Friede möglich ohne das ausdrückliche Bekenntnis zur Wahrheit?
„Die Kirchen müssten einfach nur Anwälte der Wahrheit sein“, stellt Jeub in seiner Predigt zum Auftakt der Publikation fest. Sind sie es? Können sie es, selbst wenn sie wollten, wenn sie sich u.a. durch die Militärseelsorge mit dem Staat so eng verbunden haben? Dieser Rückblick, „Sie sagen Friede, Friede… 20 Jahre Forum Friedensethik“, mitsamt der Dokumentation regen dringend zur Weiterarbeit an.