Für eine Wiederbelebung der Entspannungspolitik
Referat von Werner Ruf beim 28. bundesweiten Friedensratschlag am 4.12.
Inhalt
1. Was ist Sicherheit?
Ökumenischer Kirchentag: Workshop NATO-GS Stoltenberg, moderiert von de Maizière.
Si vis pacem, para bellum – schon immer falsch und gefährlich!
Welchen Frieden meinte die Formel? Nach gewonnenem Krieg wurde Frieden hergestellt, wurde das Land „befriedet“, heißt, die arbeitsfähigen Männer und brauchbaren Frauen wurden in die Sklaverei geführt. Sklaven: als Arbeitskraft = Energiequelle der Römischen Reiches (und ihren Heimatländern entzogen)..
Was aber beinhaltet der dumme und falsche Spruch heute?
ABSCHRECKUNG – die zentrale Doktrin de NATO. Nicht nur Abschreckung, sondern Glaubwürdige Abschreckung. Sie schließt den Ersteinsatz von Atomwaffen ein. Diese Doktrin hat die NATO soeben (1.12. 2021) auf ihrer Konferenz in Riga nochmals betont. Diese „Verteidigungspolitik“ scheint trotz ihrer Absurdität, die letztlich die Vernichtung allen Lebens auf unserem Planeten in Kauf nimmt, von den Köpfen der großen Mehrheit der Menschen Besitz ergriffen zu haben – bis hin zum sicherheitspolitischen Sprecher der Partei „die LINKE“.
Dass aber Abschreckung nicht Frieden bringen kann, hat schon Immanuel Kant in seiner Schrift über den Ewigen Frieden klar und überzeugend zum Ausdruck gebracht. Er schreibt:
„Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenze kennt, zu übertreffen …“
Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, 3. Präliminarartikel.
Vorgezeichnet sind hier
- die Sinnwidrigkeit der wechselseitigen Bedrohung, die die Kriegsgefahr nicht abschafft sondern erhöht,
- die Spirale des Rüstungswettlaufs und die dadurch permanent steigenden unsinnigen Kosten,
- Ein Drittes kommt hinzu: Um den Widersinn solcher Politik zu rechtfertigen, vor allem in Demokratien akzeptabel zu machen, braucht man einen Feind, ein Feindbild, die Beschwörung einer permanenten Bedrohung. Die Welt muss geteilt werden in ein „gutes“ Wir, dem eine bedrohende Welt der „bösen“ Anderen gegenübersteht.
Der daraus zu ziehende Schluss ist klar: Nur Abrüstung und Vertrauensbildung können ein Fundament für Frieden legen.
2. Verpasste Chancen
Wir hatten in der Geschichte einen kurzen Augenblick, in dem diese – vernünftigem Denken entspringende – Einsicht endlich zur Grundlage des politischen Handelns zu werden schien, die Einsicht nämlich, dass angesichts der bestehenden Hochrüstung derjenige als zweiter stirbt, der als erster schießt: Jener Verhandlungsprozess von Helsinki (1975), der als späte Einsicht auf die Kuba-Krise folgte, fand seinen krönenden Abschluss in der 1990 verabschiedeten Charta von Paris fand. Diese Charta von Paris ist ein einzigartiges Dokument, das Perspektiven für eine neue, friedliche Entwicklung in der Welt eröffnete. Die 22 Teilnehmerstaaten – aus West und Ost einschließlich der neutralen Staaten Europas – beschlossen, die souveräne Gleichheit und die Souveränität aller Staaten zu achten, sich (Art. 2.4 der UN-Charta) der Androhung und Anwendung von Gewalt zu enthalten, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität zu achten, Streitfälle friedlich zu regeln, sich nicht in innere Angelegenheiten einzumischen, Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten. Einen großen Raum nahmen vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung ein.
1989/90 ergab sich die Möglichkeit zu weitgehender Umsetzung und Konkretisierung dieser Prinzipien. In diesem Kontext wurde die deutsche Einigung möglich. Rüstungsbegrenzungs-Abkommen, ja Abrüstungsverträge wurden geschlossen. Militärfragen standen auch damals im Mittelpunkt. So formulierte die Charta:
„Wir begrüßen die Unterzeichnung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa durch zweiundzwanzig Teilnehmerstaaten, der zu niedrigeren Niveaus der Streitkräfte führen wird. Die Annahme eines substantiellen neuen Satzes vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen, der zu mehr Offenheit und Vertrauen zwischen allen Teilnehmerstaaten führt, findet unsere volle Zustimmung. Beide sind bedeutende Schritte hin zu erhöhter Stabilität und Sicherheit in Europa. Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte durch den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wird – gemeinsam mit neuen Ansätzen für Sicherheit und Zusammenarbeit innerhalb des KSZE-Prozesses – unser Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und unseren Beziehungen eine neue Dimension verleihen.“
Genau dies entspricht der Kant’schen Forderung nach dem schrittweisen Abbau Stehender Heere.
Plötzlich war die Rede von einem „Gemeinsamen Haus Europa“, in dem auch die Sowjetunion ihren Platz haben sollte. Im Hintergrund scheint da das Konzept von Charles de Gaulle und seinem Europa „vom Atlantik zum Ural“ (und wohl darüber hinaus) auf – ein Europa dessen mögliche Konflikte auf der Grundlage einer gemeinsamen Hausordnung im Konsens gelöst werden könnten.
Im Zuge der Entspannung zwischen West und Ost löste sich 1991 die Warschauer Vertragsorganisation auf. Spätestens jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen gewesen, im Gegenzug die NATO aufzulösen, um endgültig das Spannungsverhältnis West-Ost zu beenden.
Dazu muss daran erinnert werden, dass die NATO seit ihrem Beginn kein Verteidigungsbündnisbündnis war. Sie wurde 1949 gegründet, zu einer Zeit als die Sowjetunion mehr als voll mit der Beseitigung der Folgen des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges beschäftigt war. Erinnern muss man sich auch, dass die WVO erst 1955 gegründet wurde – als Reaktion auf den Beitritt der BRD zur NATO! Immer schon hatte die NATO auch die Funktion, die US-Präsenz in Europa und damit deren Zugang zum eurasischen Raums zu sichern, der von den Politikberatern Kissinger und Brzezinski für zentral für die Erhaltung der US-Dominanz in Europa bezeichnet wurde. Dieses Politikziel hatte, ironisch aber treffend, der erste Generalsekretär der NATO, der Brite Lord Ismay, definiert, als er die drei Hautaufgaben der NATO folgendermaßen benannte:
„To keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down.“
Das Gemeinsame Haus Europa aber hätte dieses ordnungspolitische Konzept beendet. Der 1990 geschlossene KSE-Vertrag (Gegenstand war die schrittweise und umfassende Verringerung der Konventionellen Streitkräfte in Europa) sollte der Eckstein für die Abrüstung in Europa sein und Grundlage für die Verwirklichung der in der Charta von Paris festgelegten neuer europäischen Friedensordnung. Er wurde von Russland, Belarus, Kasachstan und der Ukraine unterzeichnet und ratifiziert. Aber er wurde von keinem Mitgliedstaat der NATO auch nur unterzeichnet geschweige denn ratifiziert.
Die kurze Phase der Euphorie, der realen Entspannungspolitik in den Jahren 1989/1990 nahm so ein unrühmliches Ende: Die NATO bzw. ihre Führungskraft, die USA, hatten gesiegt. Die Sowjetunion und die WVO waren zwar verschwunden, der West-Ost-Gegensatz als Voraussetzung für Rüstungs- und Drohpolitik konnte aber gerettet und zu neuer Größe aufgebaut werden. Der erste Höhepunkt dieser Entwicklung war 1999 der völkerrechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien, der mit der Neuordnung des Balkan, ja der Gründung eines neuen Staates, des Kosovo, im Interesse des Westens endete.
Nicht zur Sicherheit, sondern zu neuer Drohpolitik wurde die NATO schrittweise von zu Zeiten des Kalten Krieges 16 auf 30 Mitglieder – allesamt in Ost-Europa – erweitert; finden jährlich immer umfangreichere Manöver (Defender) mit bis zu 50.000 Soldaten, z. T. direkt an den russischen Grenzen statt. Bestehende Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge werden gekündigt oder nicht verlängert …
3. Bedrohung statt Frieden
Nein, die Formel, dass, wer Frieden will, den Krieg vorbereiten soll, hat nicht nur Abschreckung zum Ziel, sie zielt auch auf jenen Frieden, der erst nach gewonnenem Krieg aufgezwungen werden kann – ganz nach der Formel des Verteidigungsministers von Ronald Reagan, Caspar Weinberger: „Die Sowjetunion wird entweder mit einem großen Knall oder mit einem Winseln aus der Weltgeschichte verschwinden.“
Heute trifft die Formel nicht die Sowjetunion sondern Russland. Nach der Erfahrung, die Gorbatschow mit dem Winseln gemacht hat, ist zu bezweifeln, dass Putin diese Strategie wiederholt. Denn: Was blieb von dem Versprechen, welches der damalige US-Außenminister James Baker – allerdings nur mündlich – Gorbatschow gegeben hatte, dass die NATO „um keinen Zentimeter“ nach Osten vorrücken werde?1
Das Verständnis von Sicherheit als „glaubwürdige Abschreckung“, wenn nicht Drohung wird auch überdeutlich, wenn die Ausgaben für Rüstung verglichen werden.
Wenn wir über Bedrohung sprechen, sagen diese Zahlen alles. Allein die NATO tätigt mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben. Die rd. 63 Mrd., die Russland für seine Sicherheit ausgibt, sind in diesem Zusammenhang nicht beruhigend: Russland setzt in letzter Zeit umso mehr auf die – vergleichsweise billigeren – Atomwaffen.
Bedrohung, wachsende Aufrüstung, NATO-Osterweiterung. Groß angelegte Manöver an den Grenzen Russlands, Aufrüstung im indo-pazifischen Raum, Entsendung von Kriegsschiffen führen nicht zu Frieden. Bereits 1992 meldete auch Deutschland in den Verteidigungspolitischen Richtlinien [2] seinen imperialistischen Anspruch an, als es unter den Aufgaben der Bundeswehr die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ [3] nannte.
Politische Beziehungen und Allianzen abhängig von Rüstungsexporten: Wie sonst könnten despotische Sklavenhalterstaaten wie Saudi-Arabien oder die VAE zu den verlässlichsten Freunden des Westens werden?, wie könnten sonst U-Boot-Geschäfte in Höhe von zig Mrd. € plötzlich neue Bündnisse produzieren wie beispielsweise AUKUS? Ist die – auch militärische – „Eindämmung“ Chinas letztlich nur der Versuch, einen ökonomisch und handelspolitisch übermächtig werdenden Konkurrenten auszuschalten?
An dieser Stelle erhebt sich die Frage, welches die kriegstreibenden Kräfte sind, welche Interessen militärische Interventionen letztlich zu verfolgen haben, wie sie sich durchsetzen. Der frühere Generalstabschef der US-Armee und spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower warnte in seiner Abschiedsrede vom 17. Januar 1961 vor der Gefährdung der Demokratie durch den militärisch-industriellen Komplex.[4] Wenn dem so ist, ist Kampf für den Frieden immer auch Kampf gegen die Ursache von Krieg: den Kapitalismus, von dem der große Sozialist Jean Jaures kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs sagte, er trüge den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.
4. Deutschlands Verantwortung
Ja, es gibt sie, die „deutsche Verantwortung“, wenn auch anders als es der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz forderte: Nicht die „Gewährung militärischer Sicherheit“ gegenüber Drittstaaten ist Sicherheit, sondern Abrüstung und Vertrauen. Nicht die Aufrüstung EU-Europas gegen den östlichen Teil des Kontinents ist das Gebot der Stunde: Wir brauchen im sich herausbildenden multipolaren System keinen weiteren militärischen Pol, der sich mit gleichen Mitteln neben der NATO zu etablieren versucht.
Diese deutsche Verantwortung resultiert sowohl aus der grauenvollen Geschichte, aber auch aus seiner geografischen Lage: In der Mitte Europas könnte Deutschland zum Angelpunkt einer politischen Konstruktion werden, die die Grundgedanken der Charta von Paris wieder aufnimmt, die den 2+4-Vertrag ernst nimmt, wonach „von deutschen Boden nur noch Frieden“ ausgehen wird und dass „das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“.
Statt militärischer Vormacht in der Mitte Europas könnte Deutschland Pol des Friedens werden. Es könnte im sich herausbildenden Multipolaren System eine Alternative zur Konfliktregelung mit militärischen Mitteln bieten. Diese Ideen, die gar nicht so weit zurückliegen, müssen – trotz des neuen Koalitionsvertrags – wieder in die Köpfe, denn: Wenn Du Frieden willst, bereite den Frieden vor!
Fußnoten:
[1]
[2] S. Ziff. 8(8) der VPR vom 26. Nov. 1992. http://www.agfriedensforschung.de/themen/Bundeswehr/VPR1992.pdf [02-12-21].
[3]
[4] Dolores E. Janiewski: Eisenhower’s Paradoxical Relationship with the “Military-Industrial Complex”. In: Presidential Studies Quarterly. Vol. 41, No. 4, Dezember 2011, ISSN 0360-4918, S. 667–692.